Auf dem Schulhof prügelte ich mich oft mit den anderen Jungs. Doch im Gegensatz zu ihnen brachte ich keine blauen Flecken mit nach Hause, sondern gebrochene Rippen. Ich muss etwa acht oder neun Jahre alt gewesen sein, als der Rektor alle Eltern zu einem klärenden Gespräch in die Schule bat. Meine Mutter machte einen wahnsinnigen Aufstand. Sie glaubte den anderen Kindern nicht, als sie sagten, sie hätten mich kaum berührt. Für meine Mutter waren das gewalttätige Bestien. Deshalb musste ich die Schule wechseln. An den Nachmittagen spielte ich immer mit meinem älteren Bruder Malte. Schon seit Monaten bauten er und ich an einem Baumhaus in der alten Trauerweide am See. Einmal verlor ich das Gleichgewicht und fiel von der Strickleiter, die zum Eingang des Baumhauses führte. Der Sturz war nicht sehr tief und das weiche Gras federte meinen Fall etwas ab. Und dennoch: Ich spürte sofort, dass mit meinem Bein etwas nicht stimmte.
»Du bist aber auch ein Pechvogel«, sagte der Arzt im Krankenhaus zu mir. Dann wandte er sich meiner Mutter zu. »Leider kein einfacher Bruch. Der Knochen ist an drei Stellen gesplittert.«
So kam ich zu meiner ersten Operation. Ich erinnere mich noch an den Anästhesisten, der sich zu mir herabbeugte und sagte: »Ich wette, du schaffst es nicht bis zehn zu zählen.« Dann spritzte er mir eine durchsichtige Flüssigkeit in die Vene. Mein Arm fing an zu kribbeln, das Kribbeln wurde zu einem Brennen, das sich im ganzen Körper ausbreitete. Ich begann laut zu zählen: »Eins, zwei …« Doch noch vor der Drei fielen meine Augen zu.
Später erfuhr ich, dass mein Bein mit einer Titanplatte vernagelt werden musste. Meine Eltern taten auch diese Verletzung damit ab, dass ich ein Wildfang war. Ständig trieb ich mich draußen herum, kletterte auf Bäume und turnte in alten Ruinen umher. »Irgendwann musste ja mal was passieren«, sagte meine Mutter. Insgeheim hatte sie wohl gehofft, dass ich daraus lernen und ruhiger werden würde.
Doch mein Verletzungspech riss nicht ab. Verstauchte Knöchel, verdrehte Knie. Ich verbrachte mehr Zeit in Krankenhäusern als in der Schule. Die Ärzte legten mir Verbände und Schienen an, operierten meine kaputten Knochen und gaben mir alle möglichen Tabletten gegen die Schmerzen. Wirkliche Gedanken machte ich mir wegen meiner Verletzungen nicht. Ich habe einfach nur Pech, dachte ich. Erst als ich die Gesichter der Erwachsenen sah – die ängstlichen Augen meiner Mutter, die sorgenvollen Stirnfalten meines Vaters, die ratlosen Blicke der Ärzte – erst da begann ich mich zu fragen, was mit mir nicht stimmte. Ich begriff zum ersten Mal, dass ich anders war. Und es quälte mich, nicht zu wissen, warum.
Meine Mutter schleifte mich von einem Spezialisten zum nächsten. Sie schoben mich in dröhnende Röhren und steckten mich in schalldichte Kammern. Ich muss zugeben, dass ich die Aufmerksamkeit genoss und gern die Laborratte spielte. Kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag erhielt ich endlich die Diagnose. »Ihr Sohn hat die Glasknochenkrankheit, eine extrem seltene Erbkrankheit«, sagte einer der Weißkittel über die Ränder seiner Hornbrille hinweg zu meiner Mutter, während er die Röntgenbilder meines Skeletts betrachtete. Meine Knochen seien so starr wie totes Holz, sagte er. Sie würden nicht nachgeben, sondern beim kleinsten Widerstand brechen oder splittern. Meine Gelenke dagegen seien wachsweich, weshalb ich mir ständig etwas verstauchte, verrenkte oder auskugelte. Während sich meine Mutter noch weigerte zu akzeptieren, dass ihr Sohn eine üble Laune der Natur war, umarmte ich mein neues Schicksal. Die Ungewissheit hatte ein Ende und ich entwickelte sogar einen gewissen Stolz auf meine Einzigartigkeit. Da mir der komplizierte medizinische Name meiner Erkrankung nicht gefiel, erfand ich einen neuen. Ich nannte mich fortan Glasmensch.