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André Jasch

Interview: „Die Insolvenzwelle geht über alle Branchen hinweg“

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kolbe, Sie sind Pressesprecher für Nordrhein-Westfalen des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft (BVMW). Wer steht hinter dem Verband und wie viele Mitglieder hat er?

Thomas Kolbe: Der BVMW ist ein branchenunabhängiger Verband und kein Pflichtverband wie die IHK. Zusammen mit unseren Partnerverbänden sprechen wir für etwa 950.000 Unternehmen. Dazu zählen Ein-Mann-Betriebe ebenso wie große Mittelständler mit bis zu 6.000 Mitarbeitern. Die Unternehmen sind breit aufgestellt über fast alle Branchen hinweg.

DWN: Kann man für so eine große Bandbreite an Unternehmen überhaupt mit geschlossener Stimme sprechen?

Kolbe: Das kann manchmal schon sehr konfliktreich sein, wenn Sie beispielsweise aktuell die Energiepolitik betrachten. Da gibt es natürlich auch Partikularinteressen, die wir in irgendeiner Form abbilden müssen. Aber unser Ziel ist immer, den Wirtschaftsstandort Deutschland zu verbessern.

DWN: Was sind ihrer Ansicht nach aktuell die größten Sorgen und Nöte des Mittelstands?

Kolbe: In NRW, wo auch viele größere Mittelständler angesiedelt sind, ist Energiepolitik aktuell ein treibendes Thema. Bei unseren Veranstaltungen versuchen wir auch in Kontakt mit der Politik zu kommen und laden die betreffenden Senatoren ein, damit wir diese missliche Lage dahingehend verbessern können, dass wir wenigstens weiter operabel sind. Das ist in vielen Fällen ja nicht einmal mehr so.

DWN: Wie angespannt ist die Lage aufgrund steigender Energiepreise?

Kolbe: Die Lage ist nach wie vor extrem angespannt. Die Wirkung von Gas- und Energiepreisbremsen können wir noch nicht abschätzen. Dazu ist das Thema noch zu jung. Der industrielle Mittelstand ist bei uns in NRW sehr stark ausgeprägt. Dort sehen wir Preissteigerung beim Gas (z.B. bei der Wärmedurchleitung), die können wir nicht mehr kompensieren. Dadurch können wir auch international nicht mehr mithalten.

DWN: Welche Folgen hat das für den Wirtschaftsstandort?

Kolbe: Wir sehen es schon jetzt, wozu das führt – eine Schwächung des Industriestandorts Deutschland. Große Unternehmen wie Lanxess oder BASF geben den Takt vor. Sie sagen ganz klar: ‚Wir investieren nicht mehr und wenn, dann in andere Standorte‘. Dazu kommt die Tatsache, dass die USA ein aggressives Onshoring betreiben. Als Unternehmer machen Sie eine einfache Wirtschaftsrechnung auf: Wenn Energie zwischen 30 und 50 Prozent ihrer Gesamtkosten ausmacht und sich die Kosten für Energie verfünffachen, dann werden Sie alles dafür tun, damit ihr Unternehmen am Leben bleibt. Aber bestimmt nicht mehr an diesem Standort.

DWN: Die Industrie zieht also dorthin, wo die Energie günstig ist…

Kolbe: Ökonomie ist die Transformation von Energie. Alles, was wir in der Wirtschaft machen – vom Kiosk bis zur Spezialindustrie – ist ein Derivat der Energieverfügbarkeit, -sicherheit und -effizienz. Und das ist, glaube ich, intellektuell in der Politik bis jetzt nicht verstanden worden. Wir sehen das an den Sanktionen. Trennen wir das bitte einmal für den Augenblick von jeder ethisch-moralischen Frage. Diese Sanktionen haben dem Standort einen so schweren Schaden zugefügt, weil wir nicht bereit sind, eigene Energiequellen zu erschließen. Wir haben uns künstlich die Standortbedingungen so erschwert. Das Argument für die Sanktionen war, die Geldzufuhr nach Russland zu kappen. Tatsächlich kappen wir sie zu uns selbst ab.

DWN: Bei eigenen Energiequellen denken Sie an Fracking und Kernenergie?

Kolbe: Wir sehen, wie viele Gaskapazitäten aus der Fracking-Technologie heraus möglich wären. Wir sprechen hier von Grundversorgung über Jahrzehnte hinweg zur Kompensation der fehlenden Kapazitäten aus Russland. Und was Kernenergie angeht: Ich kann nicht verstehen, dass bis jetzt darüber diskutiert wird, die bestehenden Kapazitäten zu nutzen. Diese Kraftwerke wurden erst abgeschaltet und sind längst wieder am Netz. Es war eine schlichte Lüge der Politik zu sagen: ‚Wir brauchen dafür sechs Monate‘. Das war gelogen und das ist unakzeptabel und unverantwortlich. Das ist gegen die Interessen der Menschen, der Unternehmer und der Beschäftigten. So wird der Wohlstand der Menschen zerrieben.

DWN: Beobachten Sie innerhalb Ihres Verbandes auch schon so etwas wie eine Abwanderungswelle? Sehen sich Unternehmer aktiv nach anderen Standorten um?

Kolbe: Ich darf keine Namen nennen, aber ja. Gehen Sie bitte davon aus, dass Investitionen aus dem Industrie- und industrienahen Bereich seit einem halben Jahr massiv zurückgehalten werden. Hier geht keiner mehr nach vorne und sagt: ‚Das ist jetzt die Gelegenheit‘. Das werden Sie auch in den volkswirtschaftlichen Zahlen in Kürze erkennen. In den Insolvenzzahlen materialisiert sich das schon. Der Arbeitsmarkt als Derivat dieses Prozesses hinkt da immer ein paar Monate hinterher. Und danach folgt die fiskalische Rechnung. Also wer jetzt denkt, die Haushalte seien noch relativ stabil, dem sage ich nur: abwarten.

DWN: Ist dieser Prozess der fortschreitenden De-Industrialisierung umkehrbar?

Kolbe: Nein. Das sind Wirtschaftsstrukturen, die haben sich über Jahrzehnte aufgebaut. Selbst wenn eine neue Regierung eine andere Politik machen würde, könnten Sie diese erst im übernächsten Kreditzyklus ablesen. Nehmen Sie Gerhard Schröder und seine Agenda 2010. Sie war zwar nicht das Jahrhundertprojekt, aber sie war gut und effizient. Sie hat auch ihre Wirkung entfaltet, nur lange nach seiner Abwahl. Das heißt, andere tragen immer die Früchte davon. Im Umkehrschluss bedeutet das, wenn Sie die Ökonomie heute abwürgen, indem Sie ihr die wichtigste Ressource – Energie – teilweise entziehen, dann brauchen Sie wahrscheinlich eine komplette Generation, um diesen Schaden zu beheben.

DWN: Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die von der Ampel-Regierung vorgeschlagene Änderung der Staatsbürgerschaftsgesetze?

Kolbe: Der Ampel-Regierung will ein Einwanderungsmodell nach kanadischem Vorbild in Gesetzesform gießen. Das können sie gern alles machen. Sie können das schönste Punktesystem bauen, nur wenn sie die Rahmenbedingungen nicht haben – Wachstum, eine gute Fiskalpolitik, niedrige Abgaben – dann kommt niemand freiwillig nach Deutschland, um hier die höchsten Steuern und Abgaben der OECD zu zahlen. Dann hat auch so ein Einwanderungsgesetz keinen Wert.

DWN: Wir ziehen also dann nicht die Arbeitskräfte an, die wir eigentlich bräuchten?

Kolbe: Ich schließe mich da der Aussage von Friedrich Merz an: Deutschland ist ein Sozialstaatsattraktor. Nicht mehr und nicht weniger. Das wird durch das jetzt beschlossene Bürgergeld noch einmal verschärft. Wir besiedeln die Sozialversicherungen, aber nicht mehr unsere Gewerbegebiete. Das mag 80 Prozent unserer Politiker nicht gefallen, aber das ist die Realität.

DWN: Vielen deutschen Unternehmen steht das Wasser bis zum Hals. Die Zahl der Insolvenzen nimmt zu. Wie erleben Sie die Situation in ihrem Verband?

Kolbe: Wir hatten etwa 800 Insolvenzen im letzten Monat. Das war also eine Steigerung von rund 20 Prozent. Das ist kein Ausreißer. Diese Zahlen werden weiter steigen, davon müssen wir leider ausgehen. Die Insolvenzwelle geht über alle Branchen hinweg und betrifft alle Unternehmensgrößen. Allerdings werden kleine und mittelständische Betriebe davon deutlich härter getroffen.

DWN: Warum trifft es kleine und mittlere Unternehmen stärker?

Kolbe: Die Großkonzerne sind in einer besseren Ausgangslage. Ein Beispiel: Die Regierung schloss während der Lockdowns die gesamte Wirtschaft, ließ aber einige große Konzerne weiter operieren, die sich auf diese Weise immense Marktvorteile verschafft haben. Sie wissen, wen ich meine: Die bringen uns immer die Päckchen. Ich nenne das jetzt mal ganz klar beim Namen: Das ist Korporatismus. Das ist die Kooperation einer interventionistischen Politik mit den Konzernen. Mit dem Ergebnis, das zum Beispiel in Deutschland Konzerne in Schieflage ganz schnell verstaatlicht werden. Es gibt immer einen Grund, es gibt immer eine Krise. Ohne Krise wäre der gesamte Wirtschaftsprozess statisch. Sie müssen es nur herbei argumentieren und werden immer Fürsprecher für eine Verstaatlichung finden. Ich halte das für sehr gefährlich, gerade die Grundstoffindustrien und Energieversorger zu verstaatlichen und – anders als bei der Lufthansa – keinen konkreten Plan zu benennen, wie man sie wieder privatisieren kann.

DWN: Sie sehen also eine zu enge Verquickung von Politik und Großunternehmen?

Kolbe: Ja, absolut. Sie können das auch auf der Gesetzgebungsebene ablesen. Können Sie sich noch an die Freihandelsabkommen TTIP und CETA [das kürzlich vom Bundestag ratifiziert wurde, Anm. d. Red.] erinnern? Dabei sollten ja auch Schiedsgerichte eingerichtet werden, die eine enorm hohe Finanzhürde von 500.000 Dollar vorsahen, um dort überhaupt vorsprechen zu können. Wer würde denn dann so ein Verfahren im Falle eines Patent- oder Wettbewerbsstreits anstreben? Nur Großkonzerne. Diese Konzerne hebeln gemeinsam mit wohlgesonnen Politikern, die in der Regel sowieso nichts von Marktwirtschaft halten, gemeinsam den Wettbewerb aus. Das nennt man auf Englisch rent seeking. Man verschafft sich Vorteile auf Kosten Dritter, ohne dafür eine Leistung anzubieten. Das ist in meinen Augen eine Sauerei. Deshalb versuche ich, das Thema immer wieder anzusprechen, denn das geht an unser aller Substanz.

Teil 2 des Interviews lesen Sie hier.

Zur Person: Thomas Kolbe ist Pressesprecher für Nordrhein-Westfalen des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft (BVMW). Darüber hinaus ist er selbst als Unternehmer tätig und führt eine Medienagentur. Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft – Unternehmerverband Deutschlands e. V. (BVMW) ist ein Spitzenverband der mittelständischen Wirtschaft mit Sitz in Berlin und vertritt berufs- und branchenübergreifend sowie parteipolitisch unabhängig die Interessen der mittelständischen Wirtschaft in Deutschland. Weitere Verbandsaufgaben sind die Förderung des unternehmerischen Austauschs mit dem Ziel der Wettbewerbsstärkung u. a. gegenüber Großkonzernen sowie die außenwirtschaftliche Unterstützung.